Von „gefährlichem Rechtsbruch“ ist die Rede, härtere Strafen werden gefordert und manch einer stellt die „Letzte Generation“ von Klimaaktivisten auf eine Stufe mit russischen Kriegsverbrechern. Sekundenterroristen werden zu Staatsfeinden verklärt, weil sie den Straßenverkehr für Stunden zum Erliegen gebracht haben.
Auf richterliche Anordnung waren in der vergangenen Woche zwölf Klimaaktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ nach einer praktisch identischen Aktion am Münchener Stachus für 30 Tage in Polizeigewahrsam genommen worden. Die Debatte dreht sich derweil nicht etwa über die prozessunabhängige Ingewahrsamnahme für 30 Tage (plus der Möglichkeit weitere 30 Tage anzuordnen), sondern um den Rechtsbruch und härtere Konsequenzen, die daraufhin folgen müssen.
Noch vor wenigen Jahren forderten dieselben Kleingeister während der Gezi-Proteste in der Türkei - wobei Gemeingut zerstört, das Gemeindeleben für Wochen lahmgelegt wurde und ein Milliardenschaden entstand, dass die türkische Regierung die Proteste zulässt und rechtsstaatlich handelt.
Sprich, in Berlin, Stuttgart oder München wurde in der vergangenen Woche für Stunden der Verkehr lahmgelegt, während in Istanbul im Jahre 2013 ganze Stadtviertel in Rauch aufgingen. Während man der türkischen Regierung lautstark vorwarf, mit dem Aufräumen der Proteste inkompatibel mit der Demokratie zu sein, fordert man jetzt für Klimaaktivisten, die sich mit Sekundenkleber ans Asphalt festkleben, dass sie wie Kriminelle, ja sogar Kriegsverbrecher behandelt werden, weil sie nach O-Ton von Aexander Lambsdorff es auf die „kritische Infrastruktur unserer Gesellschaft“ abgesehen haben.
CSU-Chef und Ministerpräsident Markus Söder fordert gar höhere Strafen, sprich etwas Deftigeres als nur die 30+30 Polizeiingewahrsamnahme. Vielleicht will Söder ja nur der Entstehung einer Klima-RAF vorgreifen, wie es Dobrindt gefordert hatte?
Merkwürdigerweise halten sich so ziemlich alle dezent zurück, die sich einst noch für die Entkriminalisierung der Gezi-Protestler starkmachten. Cem Özdemir, der damals mit Söder darüber einig war, dass die Gezi-Proteste den Unmut der Bevölkerung widerspiegeln und zugelassen gehören, ist gegenwärtig lieber Landwirtschaftsminister als Klimaaktivist, obwohl er doch leidenschaftlicher Fahrradfahrer sein will.
Und Deniz Yücel sowie Claudia Roth, die sich als kritische Masse während der Gezi-Proteste entpuppten, haben offensichtlich kein Problem damit, dass die gemeingefährliche „Letzte Generation“ nach Stammheim deportiert und abgeurteilt wird, wie es Dobrindt quasi gefordert hat, es Söder wiederholte. Es ist merklich still geworden um sie.
Was eine Wendung, nicht wahr? Deutschland, das Reich der Mitte Europas, das vom Flüchtlingselend nur häppchenweise etwas mitbekommt, das von anhaltendem Terror verschont geblieben ist, das das Volk mit Mainstream-Medien bei Laune hält, gerät wegen eines Dutzends Asphalt-Rowdys die mit Sekundenklebern bewaffnet sind, ins Schlingern und fordert von der Gesellschaft entschiedenere Antworten, härtere Strafen.
Schon jetzt werden in sozialen Netzwerken gewisse Ableger der „Letzten Generation“ aufgrund des Netzwerkdurchsuchungsgesetzes gesperrt oder deren Treiben eingeschränkt. Aktivisten in Hamburg, Stuttgart oder München der Prozess gemacht.
Wie wohl Deutschland ihre Demokratie verteidigen würde, wenn sie nicht inmitten Europas, sondern ein Außenposten der EU oder gar inmitten von Konfliktzonen liegen würde? Angesichts der gegenwärtigen Debatten und Forderungen von Politikern kann man sich ungefähr ausmalen, mit welchen Maßnahmen man die „kritische Infrastruktur“ schützen würde.