Auf Twitter wird erneut ein Shitstorm angestoßen, der aufzeigt, wozu die toxische Mischung aus verschiedenen politischen Strömungen gepaart mit Häme und Hass imstande ist. Diesmal ist es ein Kirchen-Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Am 22. Oktober 2020 suchte der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zusammen mit hochrangigen Politikern, darunter dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu die armenische Surp Asdvadzadzin-Kirche (türkisch: Aziz Meryem Ana Patriklik Kilisesi) im Istanbuler Stadtviertel Kumkapı auf.
Zwei Jahre später greifen oppositionelle Aktivisten in sozialen Netzwerken diesen, wie sie behaupten, ranghohen Kirchen-Besuch auf und verbreiten es. Ihre Intention dabei: regierungsnahe Aktivisten mit Häme zu begegnen und dabei Erdoğan wie auch die Politprominenz als Beispiel anzuführen.
Der Grund, der dabei angeführt wird, ist ebenso schlimm, macht aber die eigene Aktion nicht viel besser, die derzeit betrieben wird: Aktivisten der Regierungskoalition hätten das bei oppositionellen Politikern ebenso ausgekostet.
Der Hass und die Häme, die dabei zum Ausdruck kommt, schaukelt einander immer weiter hoch. Es gibt keine rote Linie mehr. Etwas, was in Zeiten des Internetzeitalters vor allem in der Türkei hässliche Ausmaße annimmt.
SON DAKİKA!
Bay Kemal ve bürokratları kilisede günah çıkartırken görüntülendi! @yeniakit @yenisafak @Sabah @Aksam @06melihgokcek pic.twitter.com/Qlg45bTHFo— Mehmet Ali Uludağ (@MAliuludag_) September 24, 2022
Wann können Kemal Kılıçdaroğlu, Erdoğan oder Süleyman Soylu in die Kirche, in die Moschee, in eine Synagoge oder in ein Cemevi, ohne dass ihnen dabei von der jeweiligen Aktivistenszene unterstellt wird, plötzlich politisch korrekt wirken zu wollen.
Oder, angesichts einer bevorstehenden Wahl kurzfristig geläutert zu sein und am Grab von diesem oder jenem beim Gebet öffentlichkeitswirksam und fotogen aufzutreten?
Wann darf eigentlich ein Politiker gläubig auftreten, zumindest Anteilnahme bzw. Interesse zeigen oder bei einer religiösen Zeremonie teilnehmen, und wann nicht?
Die Frage stellt sich überhaupt nicht, darf es nicht, weil Politiker in erster Linie das Volk vertreten oder zumindest eine Wählerschicht präsentieren, die ebenso vielfältig ist, wie die Türkei selbst. Und, Politiker sind gleichzeitig Menschen, die gegenüber Verstorbenen ein Bittgebet verrichten oder an einem Trauergottesdienst teilnehmen können wie jeder andere auch.
So geschehen am 22. Oktober des vergangenen Jahres in Kumkapı. Erdoğan nahm zusammen mit seiner Ehefrau Emine, Innenminister Süleyman Soylu und weiteren hochrangigen Politikern an der Trauerfeier für Markar Esayan teil.
Der armenischstämmige türkische Schriftsteller und Journalist Esayan war, wie viele andere Armenischstämmige auch, ein Verehrer von Erdoğan. Esayan trat sogar bei der Parlamentswahl im Jahre 2015 für die AKP an, wo er als einer von drei Kandidaten mit armenischem Hintergrund, ins Parlament gewählt wurde.
Jetzt verwenden oppositionelle Aktivisten das zwei Jahre alte Video vom Trauergottesdienst und teilen es in einem Shitstorm im Netz. Es ist nicht ganz ersichtlich, ob der Hass und die Häme nur auf die AKP-Politiker bezogen ist oder auf Markar Esayan, dessen Trauergottesdienst in der Kirche stattfand. Eigentlich ist es auch egal, weil beides schlimm genug ist.