In der Türkei liegen sich Regierungskritiker unterschiedlicher politischer und ideologischer Richtungen in den Armen. Eine gefährliche Mischung aus irren Wahrnehmungsperspektiven, Verschwörungstheorien und einem Kurzzeitgedächtnis, das der Halbwertszeit eines Isotops wie Jod-131 gleichkommt.
Die türkische Schauspielerin und Fernsehmoderatorin Berna Laçin forderte am vergangenen Dienstag in einem Twitterbeitrag Journalisten und Journalistinnen auf, sich doch mit einer von Cevheri Güven ins Netz gestellten Behauptung auseinander zu setzen, die von der Aktif Haber aufgegriffen wurde.
Bunu araştıracak gazeteci dostlardan haber bekliyoruz https://t.co/Nu9OK6MnCS
— berna lacin🌟 (@bernalacin35) September 6, 2022
Wer nun fragt, wer Cevheri Güven ist: Cevheri Güven war ehemaliger Journalist der Zeitschrift Nokta, ehe er aufgrund einer Strafverfolgung erst verhaftet, dann freigelassen wurde. In einem Beitrag der AFP heißt es hierzu: „Der flüchtige türkische Journalist Cevheri Güven sitzt in einem griechischen Café und erklärt, warum er die Verbindungen zu seinem Heimatland ‚mit einem Schnitt‘ beendet hat, nachdem Präsident Recep Tayyip Erdoğan nach dem Putsch hart durchgegriffen hatte.“
Auf illegalem Wege hatte Güven, dem eine unmittelbare Nähe zur Gülen-Bewegung bzw. FETÖ nachgesagt wird, das Land verlassen und sich schließlich in Deutschland niedergelassen. Seither übt sich Güven in Youtube als Querdenker, von dessen Querdenken sich nunmehr auch der berühmt-berüchtigte türkische Unterweltboss Sedat Peker inspiriert hat; ebenfalls einer, der das Land auf Umwegen verlassen hat.
📼 Deniz Baykal’a kaset kumpasının servisçisi
📌 Kumpas süreçlerindeki operasyonların basın karargahını yönetti
💥 PKK ile kesişen yıllarında Kozmik odanın pimini çekti
📃 İşte FETÖ’cü Cevheri Güven’in karanlık sicili
🖊️ Toygun Atilla yazdı
— Odatv (@odatv) September 6, 2022
Güven hatte kurz nach dem gescheiterten Putschversuch sich auf einen kurzen Abschnitt der FaceTime-Verbindung zwischen der CNN-Reporterin Hande Fırat und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in der Putschnacht vom 15. Juli 2016 konzentriert. Während dieses Videochats, bei der Erdoğan sich über den TV-Kanal an das Volk wendete, konnte man für einen Augenblick namentlich einen eingehenden Anruf erkennen, den Güven als den Mitarbeiter des türkischen Nachrichtendienstes Nuh Yılmaz identifizierte.
Cevheri Güven nutzte das damals geschickt aus, um diesen Anrufer mit einem „kontrollierten“ Putschversuch in Verbindung zu bringen. Voilà, die erste Verschwörungstheorie wurde bereits kurze Zeit nach dem gescheitertem Putschversuch ins Gedächtnis verankert! Nun muss man dazu sagen, dass die Schauspielerin Berna Laçin in der Putschnacht auch nicht untätig blieb und daheim aus dem Sofa heraus über Twitter mehrmals die Bevölkerung dazu aufrief, doch gefälligst im Haus zu bleiben. Wenn man jetzt genauso querdenken würde wie Güven oder Peker, ergebe sich so einiges an Material ...
Jedenfalls dachte Berna Laçin am vergangenen Dienstag nach der neuerlichen Einlassung von Cevheri Güven über Hande Fırat - also dem Wiederbeleben einer bereits eingemotteten Verschwörungstheorie - hier die Journalie zu ermuntern, der Sache doch mal auf den Grund zu gehen. Man muss dazu wissen, dass die Verschwörungstheorie über Hande Fırat seit der Putschnacht eine ganze Reihe von türkischen Reichsbürgern hervorgebracht hat. Hande Fırat hatte zwar dazu und hat nun erneut ausgiebig Stellung bezogen, aber offenbar hatte das Berna Laçin schlicht vergessen.
Der jüngste Twitterbeitrag von Berna Laçin flog also durch die Decke, dass einem Angst und Bange wird. So viele Bürger, die auch nach Jahren darauf hereinfallen?
Worüber reden wir eigentlich? Worüber gibt es noch Zweifel? Woher rührt diese Faszination für Verschwörungen?
Stellen wir uns doch so einen getürkten Putschversuch vor (haben schon etliche vor mir rekonstruiert): Da sitzen der Nachrichtendienstchef Hakan Fidan, der Generalstabschef Hulusi Akar und Präsident Erdoğan in einem konspirativen Treffen beisammen und hecken einen ungeheuerlichen Plan aus. Erdoğan erklärt Akar, er möge seinen Generälen und Offizieren unterbreiten, dass sie sich in zwei Gruppen aufteilen. Eine Gruppe soll den Putschversuch starten, die andere Gruppe den Putschversuch niederschlagen. Dem Nachrichtendienstchef wird die Aufgabe zuteil, all das geheim zu halten und diesen teuflischen Plan zu decken.
Akar geht also zu seinen Generälen und Offizieren und erklärt ihnen sinngemäß: „Jungs, ein Teil muss einen Putschversuch unternehmen, während die andere euch daran hindern wird. Ihr bekommt scharfe Munition, Kampfjets und Kampfpanzer. Ihr dürft euch austoben, müsst aber eventuell euer Leben dafür geben oder landet langjährig hinter Gittern, eure Dienstgrade sowie Pension gehen flöten, eure Familien werden darunter leiden und ihr werdet für immer ein Schandfleck der Nation bleiben. Wie gefällt das euch?“
Klar brechen die in Spalier stehenden Generäle und Offiziere in Jubel aus und umarmen sich. Klingt doch recht plausibel, nicht wahr?
So ein teuflischer Plan bleibt natürlich auch nach der Verwirklichung über mehrere Jahre hinweg weiterhin streng geheim, es dringt nichts, aber auch gar nichts durch. Zu allem Überdruß verweigert die Koalitionsregierung eine Einrichtung eines Untersuchungsausschuß zur Verschwörungstheorie.
Kein investigativer Journalist kommt dahinter, keiner der inhaftierten Generäle und Offiziere packt aus. Keiner der sich ins Ausland abgesetzten Armeeangehörigen oder Gülen-Anhänger, will so richtig erzählen, wie dieser teuflische Plan nun im Detail verwirklicht wurde. Der Nachrichtendienst bleibt dicht und hält alles zusammen.
Aber eine kleine Szene von nur wenigen Sekunden aus der CNN Türk-Ausstrahlung von der Putschnacht, bei der das Handy von Hande Fırat über FaceTime mit Erdoğan verbunden war, reicht aus, damit diese Verschwörungstheoretiker auf einen Querdenker erneut hereinfallen, Reichsbürger aufgrund dessen neuen Auftrieb geben, eine legitime Regierung weiterhin abzulehnen.
Wer war indessen Nuh Yılmaz, der Hande Fırat während der FaceTime-Verbindung anrief? Er war damals Pressesprecher des türkischen Nachrichtendienstes. Na klingelts? TV-Moderatorin und Nachrichtensprecherin Hande Fırat wurde vom Pressesprecher der MIT angerufen; mitten in der Nacht, mitten in einem Putschversuch. Das wars! Das ist die Pointe!
15 Temmuz kurgu diyerek alçak FETÖcülerin dümen suyunu girenler…
Bir de o geceyi Gazi Tümgeneralimiz Davut Ala’dan dinleyin.
O gece, kumpaslarda yargılanan Albay Sait Ertürk de aynı birlikte şehit oldu. Ruhu şad olsun.
Kurgu ile biri Şehit diğeri Gazi mi oldu ahlaksızlar! pic.twitter.com/7XjYibqAdv
— Mehmet Ali Çelebi (@celebimehmeta) September 8, 2022
Ob diese Bürgerbewegung auch einem wie Fethullah Gülen, ja sogar Murat Karayılan glauben schenken würde? Letzterer hat doch genug Verschwörungstheorien über Erdoğan, die Türkei, den Westen, den Kapitalismus parat!
Die Argumentationsmuster sind jedenfalls gleich. Die Schnittmengen sind sogar erschreckend groß. Berna Laçin, Cevheri Güven, Sedat Peker oder Murat Karayılan bedienen sich diesen Mustern oder kopieren sich gegenseitig, um ein selbst definiertes Recht oder Rechtsverständnis zu etablieren. Damit wird im Grunde die demokratische Ordnung obsolet erklärt. Irgendwie faszinierend, nicht wahr?