Erdbeben in der Türkei - wer spricht Klartext?

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Jene, die einmal im Leben einen Döner in der Hand hielten, einen Migrationsgrund haben oder sich zum Sofa-Experten aufschwingen, stellen sich dem eigentlichen Problem in der Türkei nicht, wenn es um Erdbeben-Sicherheit geht. Stattdessen kennt man offensichtlich alle Fehler der türkischen Regierung in und auswendig. Wirklich?

Das Erdbeben in der Türkei, mit einer Stärke von 7,8 am 6. Februar, riss auf einer Länge von 400 Kilometern den Untergrund auf. In manchen Gebieten wurde die Erdkruste zwischen drei bis fünf Metern verrückt, angehoben oder senkte sich ab. Die Verwerfungen setzten 9 Stunden später eine weitere unabhängige Bruchlinie in Gang, die mit einer Stärke von 7,5 nordwärts verlief. Die Intensität der Beben in insgesamt 10 Provinzen führte zu verheerenden Zerstörungen.

Um mal zu erfassen, was für Kräfte hier wirkten: Zwischen dem Erdbeben am 24. Januar 2020 in Elazığ mit einer Stärke von 6,8 und dem Erdbeben vom 6. Februar 2023 mit 7,8 gibt es einen Unterschied wie Tag und Nacht. Die Stärke (Magnitude) steigt exponentiell an, in diesem Vergleich um mehr als das 20-fache. Wurden laut der Washington Post in der Türkei 30 Petajoule Energie freigesetzt, waren es beim Erdbeben von 2010 auf Haiti mit 7,0 ca. 2,1 Petajoule Energie.

Wir können jetzt tief und breit darüber diskutieren, wer Schuld daran trägt, weshalb über 12.000 Gebäude eingestürzt sind oder stark beschädigt wurden. Hier geht es ja schließlich um über 19.000 Menschen, die dabei ums Leben kamen. Es gibt aber eine logische und einfache Erklärung, um das Problem beim Namen zu nennen. Wer traut sich aber, dieses eigentliche Problem anzusprechen?

Die türkische Regierung, genauer gesagt, alle vorherigen Regierungen dafür verantwortlich zu machen, ist die elegante Art, sich geschmeidig vor der eigenen Verantwortung zu drücken. Vor allem jene, die lautstark auf die derzeitige Regierung einprügeln, sind jene, die sich dabei gleichzeitig in Unschuld wiegen und doch den meisten Dreck am Stecken haben oder dem Kernproblem ausweichen.

Jetzt reden wir doch mal Tacheles; nach all der Trauer, nach Tagen des Bangens, während dem Mitfiebern bei den Rettungsaktionen. „Erdbeben-Sicherheit“ gibt es nicht zum Nulltarif.

In der Türkei ist der Pfusch im Bausektor eine delikate Angelegenheit. Es ist nicht eine Branche, auch sind es nicht nur Stadtverwaltungen - die ja bei den Kommunalwahlen bestimmt werden. Es sind vor allem Bauherren, private wie auch unternehmerische, die hier Hand in Hand gehen, um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen, die verheerende Folgen nach sich ziehen kann.

Es gibt nicht den Bauingenieur oder Architekten, den Bauträger oder Bauunternehmer, die ausführenden Gewerke, die Pfusch am Bau betreiben. Es ist eine Kette, dessen Glieder ineinander greifend zum Unglück führen und mitten in dieser Kette die Bevölkerung repräsentativ für ein Glied steht.

Es gibt in der Türkei genau wie in Deutschland oder in anderen westlichen Ländern Bauvorschriften und Bauverordnungen. Der türkische Gesetzgeber, also das Parlament, führen darin an, wie ein Bauvorhaben anzumelden, was zu beachten ist, wie der Bau hochgezogen werden muss und was für Mindeststandards an Ausführenden wie auch Baumaterialien eingehalten werden müssen.

Ferner sind darin auch die Zuständigkeiten geregelt. Wer also das Bauvorhaben überprüft, genehmigt, wer die Verantwortung dafür trägt oder welche Mindestqualifikation man vorweisen muss. Der Gesetzgeber hat also alles geregelt. Wer diese Regeln nicht einhält, wird haftbar gemacht. Das regelt dann das Strafgesetz oder das zivile Bürgerrecht.

Jetzt wo viele Döner-Vorkoster meinen, die türkische Regierung wäre verantwortlich dafür, dass so viele Menschen gestorben sind! Welche Regierung wurde für das Hochwasser in West- und Mitteleuropa 2021 verantwortlich gemacht? Gab es etwa da politische Folgen?

Kommen wir zum eigentlichen Thema. Menschen kann man nicht einfach aus gefährdeten Hochwasser-Gebieten in neu zugewiesene Flächen umsiedeln, um der Gefahr auszuweichen. Auch in der Türkei kann man Menschen nicht einfach in Gebiete umsiedeln, wo keine Bruchlinien verlaufen; wohin denn auch? Es gibt nur wenige kleine weiße Flecken in der Türkei, die nicht durch Bruchlinien und Verwerfungen durchzogen sind. Und deshalb leben diese Menschen ja seit Jahrtausenden am selben Fleck. Es ist daraus ein Gewohnheitsrecht erwachsen.

Menschen wollen auch einen guten Verdienst, mit der sie gut und chic in den eigenen vier Wänden leben können. Aber gut, chic und im eigenen Haus oder Wohnung leben, ist eine Sache. Es auch bezahlen können, die andere. Sicherheit gibt es jedenfalls nicht für umme, wie auch Luxus kostet. Und ab hier greift das Glied in die Kette ein.

Es gibt unzählige Berichte darüber, wie Hausbesitzer die eine oder andere tragende Wand herausreißen, den einen oder anderen Betonträger herausschneiden ließen, nur um mehr Wohnraum oder mehr Fläche zu schaffen. Es gibt auch unzählige Beispiele dafür, wie Kontrolleure der Stadtverwaltungen hinters Licht geführt wurden, Schmiergelder annahmen oder über Veränderungen gar nicht erst informiert wurden. Die Zahl der Bauten, die entgegen der Beschränkungen der Stadtverwaltungen massiv aufgestockt wurden oder Veränderungen unterlagen, kann man gar nicht erst abschätzen. Man geht sogar davon aus, dass an 70 Prozent der Bauten in der Türkei auf illegale Art mehr oder weniger Veränderungen vorgenommen wurden.

Das Phänomen, hier und da ein größeres Fenster einzubauen, durchgängige Schaufenster anzubieten oder noch mehr Wohnraum durch weitere Stockwerke zu schaffen oder Schutzräume zweckzuentfremden, in dem man alle Regelwerke des Staates über Bord wirft, ist nicht neu. Warum aber geraten wir stets in Schnappatmung, wenn das Erschaffene dann zum eigenen Unglück beiträgt?

Der Staat bzw. die Regierung tut doch schon alles, um dem Problem heer zu werden. Und muss aber gleichzeitig unter dem Jähzorn leiden, weil sie mit der Stadterneuerung (Kentsel dönüşüm) Menschen entwurzelt oder deren Gelder dazu verwendet, mehr Sicherheit zu schaffen. Ist es nicht so, dass die Bevölkerung, die von den bisherigen Stadterneuerungen betroffen waren, geradezu auf die Palme stiegen und dabei von der Opposition darin gestärkt wurden? Ist es nicht so, dass die Regierung seit 2020 damit konfrontiert wird, eingenommene zweckgebundene Steuern zweckentfremdet zu haben, obwohl die Einnahmen zu den Ausgaben (eins zu zehn) gar nicht erst im Verhältnis stehen?

Das Dilemma der Regierungen, sich politisch durchsetzen zu wollen, ohne dabei mit anschließender Entmachtung zu rechnen, beherrscht seit mehr als 60 Jahren die türkische Politik. Gerade jetzt zeigt sich eindrucksvoll, warum die Opposition dieses heiße Eisen nicht anfasst; wäre es doch ein ideales Wahlkampfprogramm, um die Wählergunst zu den anstehenden Wahlen auf sich zu lenken. Aber will das Volk tatsächlich mehr Sicherheit und im Gegenzug umgesiedelt werden oder mehr Geld auszugeben? Oder will es nur einen weiteren Sündenbock?

Welcher wagemutige Politiker erhebt sich denn jetzt aus der Masse und schreit laut auf, „ich verspreche euch 100-prozentige Sicherheit wie in Japan“? Diesen Politiker werden sie in der Türkei weder jetzt noch in naher Zukunft antreffen; nicht einmal mit der Pistole an der Schläfe. Diesen verrückten Politiker gibt es nicht, der Versprechungen macht, um anschließend aus dem Amt vertrieben zu werden, weil die Kosten die Wähler verschrecken. Apropos Kosten: bereits jetzt beklagt man sich doch über die hohen TÜV-Prüfkosten beim eigenen Heilig’s Blechle, um im nächsten Augenblick auf einen leeren Bremspedal zu treten oder während der Betankung mit LPG die halbe Tankstelle in die Luft zu sprengen.

Das Gewohnheitsrecht führte dazu, dass man seit 1960 mehrmals parlamentarisch Bauamnestien durchgewinkt hat, weil der Druck der Wähler dermaßen groß wurde, dass man nicht anders konnte. Und warum? Weil illegale Bauten und illegale Veränderungen gang und gäbe sind und Kontrollorgane der Stadtverwaltungen und Gemeindeverwaltungen damit überfordert sind, geschmiert werden oder erst gar nicht informiert werden.

Wie wollen solche Organe, die die Bauvorschriften und Bauverordnungen durchsetzen wollen, gegen eine übermächtige Mehrheit der Bevölkerung vorgehen? Etwa mit Strafanzeigen, planieren der Bauten, Rückbauen oder Inhaftierungen? Ist ja nicht so, dass der Staat nicht versucht, die Bevölkerung maßzuregeln und dabei die strenge des Gesetzes spüren lässt. Etwa im Straßenverkehr, bei der Verkehrssünder auf die Barrikaden steigen, weil die Strafe als zu streng aufgefasst werden.

Nein! So wird man dem nicht Heer. Hier muss innerhalb der Bevölkerung ein Umdenken stattfinden. Es sind nicht nur vereinzelte Architekten, Baufirmen, Bauträger oder Hersteller von Baustoffen, die dabei helfen, kostengünstige Bauten hochziehen, um so lukrative Geschäfte abzuwickeln. Es sind vor allem Menschen, die solche Bauten erwerben, aufbauen oder verändern lassen und dabei knauserig sind, um anschließend noch einen schicken Wagen zu fahren oder teuer essen zu gehen. Sicherheit ist da zweitrangig, weshalb man auch Regelwerke völlig außer Acht lässt. Aber wehe, es passiert was... Dann soll der Vater Staat einerseits verantwortlich dafür sein, aber andererseits einem sofort und unentgeltlich zur Seite stehen. Diesen Luxus können wir uns nicht mehr erlauben.